Montag, 22. Mai 2023
9:15 Uhr
Die Eisbärwache wird zunehmend herausfordernd. Zum Einen liegt seit ein paar Tagen eine dichte Wolkendecke über uns und der geringe Kontrast zwischen weißem Schnee und weißen Wolken erschwert die Sicht und lässt die Augen schneller müde werden. Immer drei Personen gleichzeitig halten für 45 Minuten auf der Brücke Eisbärwache, während drei weitere in Bereitschaft sind für den Fall, dass die Sicht abnimmt. Mit bis zu drei Gruppen zur gleichen Zeit auf dem Eis bedeutet das, dass die fünf Mitglieder der verbleibenden Gruppe sich mit Wache und Bereitschaft abwechseln. Die 35 Minuten bevor man wieder zur nächsten Schicht antreten muss, reichen allerdings kaum aus, die müden Augen zu erholen.
Zum Anderen haben wir nun seit Tagen auf die weite Fläche weißen Eises gestarrt, ohne einen Eisbären zu sichten. Ich werde besser darin, merkwürdig geformte Eisblöcke und von Algen gelblich gefärbtes Eis von Eisbären zu unterscheiden und überblicke meinen Winkel der Scholle schneller. Ich habe aber Sorge, dabei auch fahrlässiger zu werden und einen sich nähernden Eisbären erst auf kürzere Distanz zu erkennen. Tagelang nur Eis zu beobachten und dennoch einen Bären frühzeitig zu erkennen, ist herausfordernd.
Zumindest kann sich das Auge ab und zu einiger Abwechslung erfreuen, wenn sich weniger bedrohliches Leben auf dem Eis blicken lässt. Heute ist eine dicke Robbe auf dem Eis neben einem Spalt offenen Wassers zu sehen und auf der anderen Seite des Schiffes sitzt eine Gruppe kleiner Vögel auf dem Eis. Auch die Arbeit der anderen Gruppen auf dem Eis lässt sich von der Brücke aus gut beobachten, auch wenn das während der Eisbärwache nicht der Fokus sein sollte.
13:00 Uhr
Nun sind die anderen an der Reihe, meine Gruppe auf dem Eis abzusichern. Die Temperaturen sind heute erstaunlich warm, nahe 0°C, und der Wind hat seit gestern etwas abgenommen, sodass die Arbeit auf dem Eis recht angenehm ist. Wir bereiten zwei Stellen auf dem Eis für biogeochemische Probenahmen vor. Durch ein Loch im Eis lassen wir einen langen Metallarm ins Wasser, an dessen Ende sich ein Lichtsensor befindet, der die Menge des durch das Eis gelangende Licht misst. Ein weiterer Sensor misst etwa einen Meter über dem Schnee, wie viel Strahlung auf den Schnee trifft und wie viel davon vom Schnee reflektiert wird. Zusammen ergeben die Messungen ein Bild davon, wie viel Licht den Algen im Eis für Photosynthese zur Verfügung steht. Nachdem wir die Lichtmessungen vorgenommen haben, bohren unsere und eine weitere Gruppe etwa 20 Eiskerne für diverse Zwecke. Das Eis ist an unserer Probenahmestelle nur etwa 1,5 Meter dick und das Bohren fällt mir leichter als durch das 2,1 Meter dicke Eis vor drei Tagen. Ich bohre einen wie ich finde wunderschönen Eiskern, den wir für Chlorophyllmessungen einpacken. Von den nächsten fünf Eiskernen benötigen wir nur die unteren 5 cm, denn dort befinden sich die Algen, die für die Biogeochemiker an Bord von Interesse sind. Die bräunlich grünen Algen an der Unterseite jedes Eiskerns zu sehen, ist immer eine schlne Bestätigung, tatsächlich den gesamten Eiskern erhalten zu haben. Den Großteil des Eiskerns benötigen wir für diese Proben also nicht und wir nutzen die hübschen Eissäulen stattdessen, um unsere Schneegrube, in der wir die Eiskerne sägen, mit einer Burgmauer zu verzieren. Schließlich nehmen wir noch einen Eiskern für Temperatur und Salzgehaltmessungen.
Wir sind fleißig am Bohren und ganz auf unsere Arbeit konzentriert, als ein Raunen durch die Gruppe geht und jemand auf das Schiff deutet. Ich brauche einen Augenblick, um zu realisieren, was passiert. Die Gangway, unsere schmale Brücke auf das Eis, hängt schief und schleift hinter dem Schiff her, das sich zunehmend schneller rückwärts bewegt. Oder bewegt sich unsere Scholle vorwärts? Nein, die vorderen Eisanker, mit denen die Kronprins Haakon an unserer Scholle befestigt ist, haben sich gelöst und das Schiff treibt rückwärts, ohne das es jemand an Bord zu bemerken scheint. Etwas verwundert, ohne Ankündigung auf dem Eis zurückgelassen zu werden, aber mit Gelassenheit und einem Schmunzeln, schauen wir zu, wie sich das Schiff immer weiter von seiner ursprünglichen Position entfernt und winken vom Eis aus zum Abschied. Erst auf Funkspruch unseres Eisbärenwächters auf dem Eis an die Brücke, erfährt der Kapitän von dem spontanen Ablegen und lässt sofort die Schiffsmotoren an, um die Kronprins Haakon vorsichtig zurück an ihre Position im Eis zu manövrieren. Es werden neue Eisanker angebracht und die nur leicht beschädigte Gangway wird zurück in Position gebracht, sodass wir auch wieder einen Fluchtweg auf das Schiff haben. Zur Feier, dass wir doch nicht auf dem Eis allein gelassen werden, kommt sogar für einige Zeit die Sonne hervor. Die Ursache für das Versagen der Eisanker sind wohl die recht hohen Temperaturen der letzten Tage, welche die zuvor stabilen Presseisrücken in sich zusammensacken ließen. Auf dem Eis wird man immer wieder überrascht. Diese Anekdote bringt uns bei der täglichen Abendbesprechung noch zum Lachen und wird mir sicher in Erinnerung bleiben.
21:00 Uhr
Der Tag ist mit der Probenahme auf dem Eis noch lange nicht vorbei. Nach dem Abendessen und weiter nach der Abendbesprechung verarbeiten wir unsere Eiskerne von heute und die Chlorophyllfilter von gestern. Das über Nacht in Aceton gelöste Chlorophyll messen wir anhand seiner Fluoreszenz. Den Eiskern, an dem wir bereits auf dem Eis Temperaturmessungen vorgenommen haben, sägen wir im -20°C kalten Frostlabor in 10 cm lange Stücke, die für morgige Salzgehaltmessungen geschmolzen werden. Als wir endlich aus dem Labor rauskommen, bin ich erschöpft aber froh, auf einen erfolgreichen Tag voller Wissenschaft auf und an dem Eis zurückblicken zu können.